Prolog 7
Einführung – Die Magie der Zellen 13
1. Lektionen aus der Petrischale:
Ein Loblied auf kluge Zellen und kluge Studierende 27
2. Auf die Umwelt kommt’s an! 53
3. Das Wunder der Zellmembran 87
4. Die neue Physik: Mit beiden Füßen fest auf dünner Luft 111
5. Die Biologie tiefer Überzeugungen und die Macht der Gedanken 149
6. Wachstum und Schutz 185
7. Bewusste Elternschaft: Eltern als Gentechniker 201
Epilog – Geist und Wissenschaft 241
Anhang 271
Danksagung 276
Über den Autor 280
Quellen 281
Ausgewählte Würdigungen dieses Buches 298
Index
Leseprobe:
Die Magie der Zellen
Ich war sieben Jahre alt und in der zweiten Klasse, als ich bei unserer Lehrerin Frau Novak im Unterricht auf eine Kiste stieg, um durch ein Mikroskop schauen zu können. Zuerst ging ich vor lauter Aufregung zu dicht heran und erkannte nur einen Lichtfleck. Doch schließlich legte sich meine Aufregung so weit, dass ich den Anweisungen der Lehrerin folgen konnte und mich mit dem Auge etwas weiter vom Okular wegbewegte. Und dann geschah etwas, das den Rest meines Lebens bestimmen sollte: Ein Pantoffeltierchen schwamm in mein Blickfeld. Ich war restlos fasziniert. Das lärmende Getöse meiner Mitschüler trat ebenso in den Hintergrund wie der Geruch der frisch gespitzten Bleistifte und der Plastikkistchen mit Buntstiften. Ich war vollkommen gebannt von dieser fremden Welt der Zelle, die mir viel aufregender erschien als die fantastischen Welten heutiger Kinofilme gespickt mit Computeranimationen und Special Effects. In meinem kindlichen Verständnis sah ich diesen Organismus nicht als Zelle, sondern als mikroskopisch kleine Person, als denkendes, empfindsames Wesen. Dieser winzige einzellige Organismus schien mir nicht planlos im Wasser umherzutreiben, sondern ein Ziel zu haben, das mir jedoch unbekannt war. Ich sah dem Pantoffeltierchen regungslos zu, während es sich geschäftig über ein Algenblatt hermachte. Und wie ich das Pantoffeltierchen so beobachtete, schob sich auch noch das große Scheinfüßchen einer heranfließenden, lang gestreckten Amöbe in mein Blickfeld. In diesem Augenblick wurde mein Besuch in dieser Lilliput-Welt rüde unterbrochen, weil Glenn, der Klassenstärkste, mich von der Kiste stieß, um als Nächster durch das Mikroskop zu schauen. Ich versuchte, von der Lehrerin noch eine kleine Verlängerung meines Blicks durch das Mikroskop zu erwirken, aber es war kurz vor der Mittagspause, und die anderen Kinder wollten noch drankommen.
Nach der Schule rannte ich nach Hause und erzählte meiner Mutter aufgeregt von meinem Abenteuer. Mit der Überredungskunst eines begeisterten Zweitklässlers bat und bettelte ich so lange, bis mir meine Mutter schließlich ein Mikroskop kaufte. Ich verbrachte Stunden damit, diese fremde Welt zu bestaunen, zu der ich mir durch das Wunder der Optik Zugang verschaffen konnte. In der Hochschule eröffneten sich mir neue Möglichkeiten mit dem Elektronenmikroskop, das tausendfach stärker ist als ein gewöhnliches Mikroskop. Der Unterschied lässt sich vergleichen mit dem zwischen den Fernrohren an touristischen Aussichtspunkten und dem Hubble-Teleskop, das uns Bilder aus den Tiefen des Weltraums übermittelt. Der Zutritt zum Elektronenmikroskop-Bereich eines Labors hat für den angehenden Biologen beinahe etwas Rituelles. Man geht durch eine schwarze Drehtür, ähnlich der Tür vor der Dunkelkammer eines Fotolabors. Ich erinnere mich an das erste Mal, als ich diese Drehtür betrat und sie vorwärtsschob. Ich befand mich in der Dunkelheit zwischen zwei Welten – zwischen meinem Leben als Student und meinem zukünftigen Leben als Wissenschaftler. Die Tür öffnete sich in einen großen, dunklen Raum, der von einigen Infrarotlampen spärlich erhellt wurde. Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnten, erkannte ich langsam, was vor mir stand. Das rote Licht spiegelte sich auf gespenstische Weise in dem Chrom einer dicken, massiven, mit elektromagnetischen Linsen bestückten Stahlsäule, die sich in der Mitte des Raums bis zur Decke erhob. Ausgehend von der Säule erstreckte sich eine große Steuerungskonsole in den Raum. Sie erinnerte mich an das Instrumentenboard einer Boing 747, voller Hebel, beleuchteter Messgeräte und vielfarbiger Anzeigelämpchen. Wie Tentakel schlängelten sich vom Fuß des Mikroskops dicke Stränge von Elektrokabeln, Wasser- und Vakuumschläuchen in alle Richtungen. Das Ganze ähnelte den knorrigen Wurzeln einer alten Eiche. Im Hintergrund klapperten die Vakuumpumpen und summten die Kühlwassergeräte.
Ich hatte ein Gefühl, als hätte man mich geradewegs an Bord von Raumschiff Enterprise gebeamt. Aber offensichtlich hatte Captain Kirk gerade seinen freien Tag, denn an der Konsole saß einer meiner Professoren und konzentrierte sich darauf, eine Gewebeprobe in die Vakuumkammer im Zentrum der Stahlsäule einzulegen. Während ich dort ein paar Minuten so wartete, hatte ich ein ähnliches Gefühl wie damals in der zweiten Klasse, als ich zum ersten Mal eine Zelle sah. Endlich erschien ein grün leuchtendes Bild auf dem Monitor. Die dunkel eingefärbten Zellen waren bei der 30-fachen Vergrößerung kaum zu erkennen. Dann wurde die Vergrößerung Schritt um Schritt erhöht, zuerst um das Hundertfache, dann das Tausendfache, dann das Zehntausendfache. Als wir schließlich in den Warp- Antrieb schalteten, waren die Zellen 100.000-fach vergrößert. Es war wirklich wie in Star Trek, nur dass wir nicht die Tiefen des Welt- alls, des äußeren Raums, erkundeten, sondern in die unbekannten Tiefen des inneren Raums vorstießen, »die nie zuvor ein Mensch betreten hat«.
Eben hatte ich noch eine winzige Zelle gesehen, und Sekunden später befand ich mich tief in ihrer molekularen Struktur. Ich verspürte Ehrfurcht vor diesem Wunder der Wissenschaft und empfand es als große Ehre, als ich zum Kopiloten ernannt wurde. Ich legte meine Hände auf die Instrumente und flog selbst über diese fremde, zelluläre Landschaft. Als mein Reiseführer wies mich mein Professor auf besondere Merkmale hin: »Da ist ein Mitochondrium, da ist der Golgi-Apparat, da drüben ist eine Kernpore, und hier ist ein Kollagen-Molekül. Das hier ist ein Ribosom.« Ich fühlte mich wie ein Pionier, der bislang unerforschtes Gebiet erkundet. Das Lichtmikroskop hatte mir die Zellen als empfindsame Wesen gezeigt – das Elektronenmikroskop brachte mich in direkten Kontakt mit den Molekülen, den Grundbausteinen des Lebens. Ich wusste, dass tief in der Zytostruktur Hinweise auf das Geheimnis des Lebens lagen. Für einen kurzen Augenblick wurden die Linsen des Mikroskops zur Kristallkugel – in dem gespenstisch grünen Leuchten des Bildschirms sah ich meine Zukunft.
Ich wusste, ich würde Zellbiologe werden, um Einblicke in die Geheimnisse zellulären Lebens zu gewinnen. Im bisherigen Studium war mir schon früh bewusst geworden, dass Struktur und Funktion von biologischen Organismen eng miteinander verwoben sind. Ich war mir sicher, dass ich Einblick in das Wesen der Natur gewinnen würde, wenn ich die mikroskopische Anatomie der Zelle mit ihrem Verhalten in Verbindung brachte. Und so verbrachte ich während meines ganzen Studiums, meiner Doktorandenzeit und noch in meiner Zeit als Professor an der medizinischen Fakultät viele Stunden mit der Erforschung der molekularen Anatomie der Zelle, denn in der Struktur der Zelle verbergen sich die Geheimnisse ihrer Funktion. Um die »Geheimnisse des Lebens« zu ergründen, widmete ich mich der Erforschung geklonter Stammzellen in Gewebekulturen. Zehn Jahre nach meiner ersten Begegnung mit einem Elektronenmikroskop lehrte ich an der angesehenen medizinischen Fakultät der Universität von Wisconsin. Meine Forschungen über geklonte Stammzellen waren international anerkannt und meine Seminare gut besucht. Ich arbeitete jetzt mit noch stärkeren Elektronenmikroskopen, mit denen ich dreidimensionale, Computertomografie-ähnliche Fahrten durch Organismen unternehmen konnte, bei denen ich den Molekülen, die die Grundlage des Lebens bilden, von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand.
Meine Instrumente hatten sich zwar weiterentwickelt, aber meine Haltung blieb unverändert. Ich verlor nie die Überzeugung des Siebenjährigen, dass das Leben der Zellen, die ich untersuchte, einen Sinn hat. Leider war ich nicht davon überzeugt, dass mein eigenes Leben einen Sinn hatte. Ich glaubte nicht an Gott, obwohl ich zugeben muss, manchmal grübelte ich verzweifelt darüber nach, ob es nicht doch einen Gott gebe, der diese Welt mit einem ausgeprägten Sinn für schwarzen Humor regiert. Schließlich war ich ein traditionell rational und naturwissenschaftlich denkender Biologe, für den die Frage nach Gott überflüssig ist: Das Leben ist eine Konsequenz reinen Zufalls, ein zufällig gemischtes Kartenspiel oder ein genetisches Würfeln. Seit Darwins Zeiten lautet das Motto unserer Zunft: »Gott? Wir brauchen keinen Gott!« Darwin hat die Existenz Gottes nicht geleugnet. Er meinte lediglich, das Leben auf der Erde sei nicht durch göttliche Intervention, sondern durch den Zufall entstanden. In seinem Buch Der Ursprung der Arten von 1859 erklärte Darwin, dass die individuellen Anlagen von den Eltern an die Kinder weitervererbt werden. Seiner Ansicht nach steuern diese »Erbfaktoren« die Eigenschaften unseres individuellen Lebens.
Diese Erkenntnis führte in der Wissenschaft zu intensiver Forschung, die darauf abzielte, das Leben bis in seine molekularen Einzelheiten zu zerlegen, denn in den Strukturen der Zellen vermutete man den Erbmechanismus, der das Leben bestimmt. Vor rund 60 Jahren fand diese Suche einen bemerkenswerten Abschluss, als James Watson und Francis Crick die Struktur und Funktion der DNA-Doppelhelix beschrieben, aus der die Gene bestehen [DNA=DNS, Desoxyribonukleinsäure]. Endlich hatten die Wissenschaftler das Wesen der »Erbfaktoren« entschlüsselt, über die Darwin im 19. Jahrhundert geschrieben hatte. Die Tagespresse prophezeite eine »schöne neue Welt der genetischen Manipulation« mit Designer-Babys und Wunderheilungen. Ich erinnere mich noch lebhaft an die Schlagzeilen jenes Tages im Jahr 1953: »Das Geheimnis des Lebens ist entdeckt!« Auch die Biologen sprangen auf diesen Zug auf. Der Mechanismus, mit dem die DNA das biologische Leben steuert, wurde zum zentralen Dogma der Molekularbiologie und in zahllosen Büchern breitgetreten. Der lange Streit »Natur oder Kultur?« (das heißt zwischen Veranlagung oder Konditionierung, zwischen Angeborenem und Erworbenem) schien zugunsten der Natur auszugehen. Zuerst hielt man die DNA nur für die Ursache unserer körperlichen Merkmale, aber dann glaubte man zunehmend, dass die Gene auch unsere Emotionen und unser Verhalten bestimmen.
Wurde man also mit einem angeknacksten Glücks-Gen geboren, dann erwartete einen eben ein unglückliches Leben. Leider glaubte ich, zu den Leuten zu gehören, bei denen das Glücks-Gen vergessen worden oder mutiert war. Ich taumelte unter einem unablässigen Bombardement von Schicksalsschlägen dahin. Mein Vater war gerade nach einem langen, leidvollen Kampf gegen den Krebs gestorben. Die letzten vier Monate hatte ich damit verbracht, alle drei bis vier Tage zwischen meiner Arbeit in Wisconsin und seinem Zuhause in New York hin und her zu fliegen. Wenn ich nicht gerade an seinem Sterbebett saß, dann versuchte ich, mein Forschungsprogramm weiterzuführen, meine Seminare und Vorlesungen zu halten und einen neuen Förderantrag für das National Institute of Health auszuarbeiten. Um mein Stressniveau noch ein wenig zu erhöhen, steckte ich mitten in einem emotional äußerst belastenden und finanziell verheerenden Scheidungsprozess. Die Kosten dafür fraßen meine gesamten finanziellen Ressourcen ...